Reisebücher, Reiseliteratur, Ratgeber -
Estland, Lettland, Litauen

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Neu auf dem Buchmarkt: Radreise-Bücher zu Estland, Lettland und Litauen

Bis 2006 war das 1999 herausgegebene kleine Ringbuch von Dirk Jung "Veloviabaltica" einziger Radgeber für Fahrradtouristen und Langstreckenradler/innen, die spezielles Interesse an den drei baltischen Staaten hatten (INFOBALT-Rezension).

Nun soll das anders werden. Im Umfeld des von Litauen aus koordinierten Projekts "Baltic Cycle" sind inzwischen ebenfalls einige Materialien entstanden, und gleich mehrere Verlage geben deutschsprachige Radreise-Ratgeber heraus. Was ist davon zu erwarten? Bestehen sie den Praxistest? Wir haben es genauer unter die Lupe genommen. Die Bewertungkriterien haben wir gegenüber den sonstigen Reisebüchern beibehalten - natürlich unter besonderer Berücksichtung der Bedürfnisse der Radlerinnen und Radler.

Layoutbeispiel 11,6 cm breit
16,9 cm hoch
Michael Moll: Baltikum per Rad. 1. Ausgabe 2006, Verlag Wolfgang Kettler, Neuenhagen. 320 Seiten, 14,80 Euro. ISBN 3-932-546-35-0.
1. Größte Stärken
Gut nachzuvollziehen sind die Tipps in diesem Buch besonders für diejenigen, die genau der beschriebenen Basisroute folgen. Der Autor hat spürbar reichhaltige Praxiserfahrungen von vielen individuellen Radwandertouren. Wer in erster Linie Streckenbeschreibungen und Tourenideen sucht, der ist hier ausreichend gut bedient. O
2. Größte Schwächen
Neben den guten Praxistipps wird auch ein gehöriger Schuß Individualismus aus diesem Buch deutlich. Erfahrungen werde aus der Sicht eines Einzelreisenden geschildert, der auch offen sagt, dass er so manche andere Ansprüche von Leute, die etwas andere Bedürfnisse haben, erst gar nicht berücksichtigen will. Bei Themen, die der Autor nicht mag (z.B. alles Geschichtliche), werden leider auch die Leser schlecht bedient - und zwar nicht durch fehlende, sondern durch schlecht recherchierte Infos.
3. Einleitung, Übersicht
Das Buch wird eingeleitet durch den Abschnitt "mit dem Fahrrad auf Reisen - Baltikum". Der Text macht auf angemessene Art mit der zu bereisenden Region bekannt - einzig die These, dass Lettland dasjenige Land der drei sei mit den wenigsten Sehenswürdigkeiten, das ist wohl eher Geschmacksache.

Auch der Reiseteil wird noch einmal von einem Kapitel "Informationen" eingeleitet. Hier gibt der Autor Erfahrungen bei der eigenen Inforecherche wieder, z.b. zur Zugänglichkeit der Tourist-Informationsbüros, der Qualität der erhältlichen Broschüren, oder dem Infoservice vor Ort. Soweit können diese Einschätzungen auch von uns geteilt werden.
Bei den Info-Tipps gibt es leicht mißverständliche Aussagen, wie zum Beispiel diejenige, die baltischen Touristenzentralen hätten sich "der Einfachheit halber zusammengeschlossen" (sie nutzen in Berlin ein gemeinsames Büro). Auch die Beschreibung des Fahrradprojekts "BalticCycle" enthält ähnliche vereinfachende Schlußfolgerungen. Etwas unglücklich die Internet-Tipps in diesem Abschnitt: erst wird gesagt, die baltischen Staaten würden sich im Internet gemeinsam präsentieren, dann wird aber die Angabe der zugehören Webadresse hier glatt vergessen. Wieviel Zeit der Autor wohl im Internet recherchiert hat? Die Qualität der angebenen Webadressen ist wechselhaft: an dieser Stelle werden bei zwei der drei baltischen Botschaften Adressen angegeben, die nur auf einen sehr flüchtigen Blick für amtliche Botschaftsinfos gehalten werden können.
Die Informationslücken scheinen jedoch teilweise auch Methode zu haben: so empfiehlt der Autor selbst auf Seite 50, sein Buch "mit einem anderen Reisebuch zu kombinieren". O O ?

4. Anreiseinfos
Die Anreiseinfos sind erfreulich praxisnah und aktuelle - mehr muss eigentlich ein Radreisender zur Orientierung gar nicht wissen. Sogar für "Radeln mit Hund" inklusive Einreisebestimmungen für das Tier wird etwas geboten. O O O
5. Mit dem Rad unterwegs
Der Autor bekennt sich schon in der Einleitung offen dazu, dass nur die estnischen, lettischen und litauischen Ortsnamen verwendet werden - eine Verfahrensweise, die sicherlich das Auffinden vor Ort erleichtert.
Allerdings wird auch empfohlen, die geplante Streckenführung (dem Buch entnommen, oder selbst ausgedacht) vor der Reise auf einer Karte einzutragen, und die zugehörigen Infos aus dem Buch so ebenfalls herauszusuchen. Dies scheint auch nötig, denn das Buch gliedert sich eigentlich in zwei Teile: Kapitel 1 bis 60, die aufeinanderfolgend eine Route an der Westküste von Klaipeda hinauf nach Estland, an der Ostgrenze wieder hinunter bis Vilnius, wieder hinüber nach Klaipeda, und dann quer durch Litauen bis ins südost-lettische Daugavpils schildert. In dieser Reihenfolge lassen sich alle beschriebenen Details wesentlich besser aufnehmen als entweder bei selbstgewählter Routenführung, oder bei Kombination verschiedener Teilstücke miteinander. Die Genauigkeit der Beschreibung einzelner Teilstücke schwankt manchmal stark - manche Orte werden erstaunlich genau, andere mehr als oberflächlich beschrieben, oder gar mit einer wertenden Bemerkung ("nicht sehenswert") einfach weggelassen.

Sehr realitätsnah fallen die praktischen Hinweise zu Verkehrsverhältnissen und "Radwegen im Land" aus. Hier kommen wieder eher die Stärken von Michael Moll zum Vorschein: an praktischen Tipps zur direkten Verwertung für den Radler läßt er sich kaum etwas vormachen.

An manchen Stellen des Buches sind die komprimiert aneinandergereihte Listen von Webadressen unterschiedlicher Qualität von begrenztem Nutzen - besser sieht es da schon aus bei den Angaben zu einzelnen Orten: oft sind Fahrrad-Reparaturwerkstätten mit angeben, ein paar Hoteladressen plus zugehöriger Internetseite und auch Telefonnummern. So läßt sich das Unterwegs-Sein gut planen!

O O O ?

6. Übernachten – allgemeine Hinweise
"Die Überprüfung vieler Hundert Quartiere und Lokale würde Jahre dauern" - so desillusioniert uns der Autor auf Seite 50. "Beachten Sie bitte, dass allein in der Altstadt von Riga über Hundert Lokalitäten zur Verfügung stehen." Konkrete Freizeittipps, Hotelempfehlungen, oder nähere Beschreibungen guter Restaurants müssen wir also woanders suchen. Wer dieses Buch kauft, sollte das wissen! Allerdings: zu jedem beschriebenen Ort sind auch wenigstens ein, zwei Hotelnamen, Telefonnummern und Webadressen angegeben. Gegenüber den zahlreichen Tipps zu Campingplätzen fallen die wenigen beschriebenen Erfahrungen mit Hotels jedoch stark ab.
Es ist wohl Geschmacksache, ob sich Radler hier mit einer reinen Tourenbeschreibung zufrieden geben, und dem Autor bei landeskundlichen Themen fehlendes Rechercheinteresse nicht als Faulheit auslegen. Immerhin muss auch für dieses Buch knapp 15 Euro ausgegeben werden.

An anderer Stelle im Buch folgt noch der Abschnitt "ein Dach über dem Kopf", dessen Lektüre wohl den Schluß zulassen könnte der Autor sei vorwiegend Camper. Die allgemeinen Einschätzungen der verschiedenen Möglichkeiten lassen sich aber sehr gut nachvollziehen. O O

7. Essen & Trinken, allgemeine Hinweise
Irgendwie muss sich auch Radler Michael Moll verpflegt haben - das erscheint logisch. Selbst Kochen (andere Reiseradler sind hier richtige Spezialisten!), oder gemütliche Restaurantbesuche sind aber seine Sache offensichtlich nicht. Der Abschnitt "Kulinarisches" füllt eine einzige Seite und fängt an mit der vielsagenden Bemerkung: "Ich habe vor Jahren mal irgendwo gelesen..." An die Stelle sauberer Recherche werden hier allgemeine Vermutungen gesetzt, und allgemeine Aussagen wie diejenige, man könne überall gut und günstig essen - solange man einheimische Produkte kaufe (also doch selbst gekocht?).
Zum Thema "Essen" behauptet der Autor schlicht, dass es eine "landestypische Eßkultur wie beispielsweise in Italien oder Frankreich" im Baltikum nicht gäbe. Als Argumente dafür müssen herhalten, dass es lettische Piragi auch so ähnlich in Polen gäbe, und die litauische Sauerampfersuppe ähnlich auch in Thüringen. Kulinarischer Postkolonialismus?
Leider geht es in diesem Ton zum Thema "Trinken" weiter. Radler sollten eh nur Mineralwasser trinken, das bekommt der Leser als einzigen praktischen Hinweis. Und dann solche Sätze wie "Trinken - ja, das wird im Baltikum getan, leider." Von Landeskunde ist so etwas weit entfernt. O ?
8. Praktische Tipps
Es lassen sich Tipps finden zu den drei Währungen und dem Umgang damit - so weit, so gut. Die persönlichen Wertungen des Autors, dass manches bereits überteuert angeboten werde, könnte auch noch hingenommen werden. Wer sich als Tourist deshalb beschweren möchte, dem sei das ja unbenommen. Aber so etwas damit begründen zu wollen, "die Einheimischen können sich das auch schon nicht mehr leisten" (S.55 ein Campingplatz) - zeugt schlicht von Unverständnis gegenüber dem Alltag gestern und heute in den baltischen Staaten - hier wirkt es eher wie ein Besser-Wessi oder Super-Ossi.
Die Anmerkungen zum Thema Post, Telefon, Normen, Öffnungszeiten, Feiertagen dageben sind sachgerecht und von solchem scheinbaren "Insiderwissen" frei.

Wenn es um praktische Tipps für das Fahrrad geht (Typ, Ausstattung, "Mieten oder Kaufen") dann wirken die Ratschläge wieder kompetent und praxisnah - hier ist kaum etwas zu bemängeln. Die Fahrradersatzteile-Liste ist mit kleinen Fehlern behaftet (bei der Schreibweise der Begriffe in den Landessprachen) - aber hier wird im Ernstfall ja sowieso am schadhaften Objekt repariert, und nur selten wird man in die Lage kommen, schwierige Begriffe in Landessprache erklären zu müssen (allein eine solche Liste im Notfall zur Hand zu haben, beruht schon ungemein).

O O ?

9. Geographie, Natur, Klima
In die Geographie der Region wird nur sehr allgemein eingeführt - Geographie für Reiseradler sozusagen. Gibt es hohe Berge, Anstiege, Schwierigkeiten? Wie sieht die Landschaft ungefähr aus? Viel mehr Antworten gibt der Autor in diesem Buch nicht. Eigentlich schade, dass für so naturverbundene Leute wie Radfahrer keine näheren Naturinfos gegeben werden: was da manchmal "im Vorbeifahren" zu einzelnen Orten so angegeben ist im Verlauf der Tourbeschreibung, scheint doch eher aus irgendwelchen Infobroschüren abgeschrieben. Sensationell wirken Sätze im Buch wie: "Die Balten sind ein naturverbundenes Volk und viel an der frischen Luft." (welches "Volk" ist hier eigentlich gemeint - neben dem schlichten Witz der ganzen Aussage?)-
Die kurzen Einschätzungen zu Klima und Reisezeit sind allerdings zutreffend. O
10. Umwelt- und Naturschutz
Was zu den fehlenden Aussagen zum Naturraum zu sagen ist, gilt auch für den Umwelt- und Naturschutz. Was nicht gerade aus Tourismus- oder Ortsbroschüren zu entnehmen ist, wird hier auch nicht vermittelt. Woher soll der Autor das auch wissen? So könnte man fragen. Aber wer den Strand von Liepaja beschreibt, der sollte vielleicht doch darauf hinweisen, dass hier auch schon gefährliche Phosphorklumpen von nichtsahnenden Gästen aufgesammelt wurden. Oder wer den Strand in Pāvilosta herausstreicht, angeblich ein"Geheimtipp", der könnte vielleicht wissen, dass es hier eine einzigartige Dünenlandschaft gibt, die leider durch illegale Bauten und fehlenden Schutzstatus gefährdet ist. Gut - solche Kenntnisse sind für einen durchreisenden Radler, der danach dann einen Reiseführer schreibt, nicht leicht zu bekommen - aber wie gesagt: umwelt- und naturinteressierte Radler würde solche oder ähnliche Tipps sicher begrüßen. Noch ein Beispiel aus dem Westen Lettlands: den Weg von der litauischen Grenze Richtung Liepaja beschreibend, steht bei Moll: "der Weg links nach Pape führt in eine Sackgasse und nicht nach Norden." (S.83) Als Orientierungshinweise für durchreisende Radler okay, aber wer nicht wenigstens erwähnt, dass sich am Pape-See Lettlands einzigartiges Wildpferdereservat befindet - mit Angeboten für Besucher - der interessiert sich offensichtlich nicht sonderlich dafür.

Ein Fehler, den viele andere Reisebuchautoren ebenfalls machen, fehlt auch hier nicht. Die Blaue Flagge, verliehen für die Erfüllung standardisierter Umweltauflagen für einzelne Strandabschnitte, wird weit überschätzt - bei Moll steht sogar "wenn das Meer den Umweltschutzrichtlinien entspricht und zum Baden einlädt." (S.95, beschrieben für Ventspils - selbst in einem Ort wie diesem kommt bei Moll keine Umweltthematik vor).

O ?

11. Geschichte, Politik
Zur Geschichte wird eine Zeittafel angeboten, deren Inhalt mit sehr vielen Fragezeichen versehen werden muss. Ausgelöst wird das Kopfschütteln vor allem durch merkwürdige Begrifflichkeiten: so wird 1201 angeblich eine "Festung Riga" gegründet, in Estland ist angeblich ein "Degenorden" aktiv, während es in Litauen im gleichen Zeitabschnitt nur "Fürstentümer" zu geben scheint. In späteren Jahrhunderten werden einfach große Lücken gelassen (wenig zur schwedischen Zeit im 17.Jhd.), und für das Jahr 1918 ist doch tatsächlich angegeben: "nach Ende des Ersten Weltkriegs wird Litauen als erster baltischer Staat wieder unabhängig" (was die anderen beiden wohl zu diesem "wieder" meinen?). 1940 annektierte die Sowjetunion die baltischen Staaten angeblich als "Folge des Krieges" (tatsächlich passierte es schon zuvor), 1985 wird Gorbatschow angeblich zum "obersten Sowjet" gewählt, und die "Singende Revolution" in Estland fand angeblich genau am 11.9.1988 statt (soviel Exaktheit! Da freuen sich auch die Esten - in Wirklichkeit sind es wohl eher schlecht redigierte Formulierungen). Lettland dagegen erklärte, diesem Buch zufolge, am 28.7.1989 seine Souveränität (einzig mögliche Diagnose: schwere Verwechslung - mit was auch immer).
So viele Unsicherheiten würde man nicht einmal bei Hobbyhistorikern vermuten - hier müssen es die Radfahr-Fans ertragen.

Die heutige politische Situation erscheint dem Autor offensichtlich greifbarer. Hier sind die grundsätzlichen Bemerkungen weitgehend zutreffend, und machen mit einigen akutellen Themen bekannt. Ins Detail verschiedener politischer Gruppierungen oder Strömungen geht dieser Abschnitt jedoch nicht - er orientiert sich eher an Wirtschaftsthemen. Unsicherheiten auch hier (warum soll z.B. die Privatisierung von ehemaligen Staatsbetrieben in Lettland umstrittener sein als in den beiden anderen Ländern?), aber dieser Abschnitt enthält zumindest für den weniger informierten Leser keine Irritationen.

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12. Wirtschaft
Zusammen mit grundlegenden Bemerkungen zu aktuellen poltischen Themen wird in sachlich korrekter Weise in einige Themen kurz eingeführt. O O
13. Bevölkerungsstruktur
Zwar gibt es im Buch einen Abschnitt zur Bevölkerungsstruktur, aber auch hier wird deutlich, dass der Autor seine Stärken eher in der Praxis des Radfahrens hat. Die Sachinformation wirkt im Grundsatz richtig, aber im Detail ungenau und unsicher. So identifiziert er in den baltischen Staaten "drei Völker" (korrekt wäre = es sind sogar mehr als drei Völker, aber in jedem Fall drei sehr verschiedene Staaten), und die Einschätzung der Verteilung von Religionszugehörigkeiten, wie auch deren Bezeichnung, erscheint zumindest ziemlich verkürzt (er identifiziert eine "jüdische Synagogengemeinschaft", oder die "deutsch-evangelisch-lutherische Kirche"). O
14. Religion, Kirche
Kirchengebäude werden auffallend zurückhaltend beschrieben - oft wird nur ihr Standort erwähnt. Das entspricht allerdings der bereits erwähnten Buchkonzeption, die Leser mögen bitte alle weiteren Details "selbst entdecken". Details aus der alltäglichen Perspektive der verschiedenen Religionsgemeinschaften werden nicht geboten. O
15. Sprache
Bei den vielen fachlich sehr schwachen Bemerkungen in anderen Themen kann man wohl froh sein, dass die "drei Sprachen des Baltikums" (wie sich der Autor ausdrückt) einigermaßen korrekt beschrieben sind. Die Wortliste ist allerdings mit einigen Schreibfehlern versehen - allzu "buchstabengetreu" sollte sich lieber niemand darauf verlassen.

Bei den praktischen Hinweisen sind die begrenzten Sprachkenntnisse des Autors auch zu erkennen: wenn er etwa beschreibt, eine Straße sei "nach Dižakmens ausgeschildert" (Seite 90 - der Begriff bezeichnet im Lettischen einfach einen großen Felsen). Dem praktischen Nutzwert tut das jedoch keinen Abbruch. O

16. Sprachhilfe, Vokabelliste
Ausser einer Liste von fahrradspezifischen Begriffen gibt dieses Buch keine Hilfestellng beim Erlernen einiger Grundvokabeln. O
17. Kultur, Kunst, Musik, Literatur, Theater
Von Sagen und Legenden hält der Autor offensichtlich wenig - und versucht offensichtlich sich selbst als besonders lebenserfahrenen und realitätsbezogen darstellen. "Lassen Sie sich keinen Bären aufbinden," empfiehlt er den Lesern (ohne die für Lettland wichtige Bärentötersage überhaupt zu erwähnen - aber vielleicht kennt er die gar nicht?).
Vielleicht wäre das auch "Geschmackssache" - aber die Formulierungen solcher Passagen gehen zumindest sehr weit am Verstehen der Mentalität der Est/innen, Lett/innen und Litauer/innen vorbei. Überschrieben ist der besagte Abschnitt (S.21) übrigens mit "Sprache und Literatur" - über Literatur aber ist an dieser Stelle lediglich gesagt, dass der Autor nicht viel von den baltischen Sagengestalten hält. An anderer Stelle (S.45) sind einige andere Reisebücher aufgelistet - und als einziges Buch aus anderen Fachbereichen ausgerechnet ein detailliertes Werk über die estnische Kalevipoeg-Sage (also lohnt die Lektüre doch?).

Des Autors Abneigung gegen alles allzu Alte und scheinbar dadurch Langweilige wird auch für den kulturellen Bereich in Sätzen wie diesen deutlich: "Das 'Selbstentdecken', ob von Monumenten, Museen oder estnischen Herrenhäusern, kann Ihnen der Autor nicht abnehmen." (S.50) Begründet wird das damit, Moll wolle den "persönlichen Erlebniswert" nicht vorwegnehmen. Gut, könnte man da sagen:"Reisen wir also ohne Buch" - das wäre in diesem Punkt sicher konsequent. --- Was wir aber lesen können in diesem Reiseführer ist eben frei von detailiierten Beschreibungen aller kulturellen Bereiche - falls es der Autor nicht als zufällige Beobachtung am Wegesrand aufschnappt. Manches wirkt dann auch ungenau, wie z.B. die Bemerkung zum Städtchen Ogre, dass dort in einem Amphitheater "alle fünf Jahre das beliebte Sängerfestival aufgeführt wird." (S. 284 - die zentralen Veranstaltungen des lettischen Sängerfestes sind immer in Riga).

Noch krasser ist das Mißverständnis im Falle der Stadt Cēsis, und wieder hat es mit Geschichtsverständnis zu tun. Moll findet auf einem Denkmal die Inschrift "vom Schwerte ging die Sonne auf" (Lettisch und Estnisch), und interpretiert das als "abstruse Formulierung militaristischen Gedankengutes." Offensichtlich hat ihm niemand die wirkliche Bedeutung dieses Denkmals erkärt - und was es gerade für ihn als Deutschen hätte bedeuten können (hier fand gegen Ende des 1.Weltkriegs die entscheidende Schlacht lettischer und estnischer Verbände gegen deutsche Freikorpstruppen statt - nur nach diesem Sieg konnte die estnische und lettische Unabhängigkeit gesichert werden). O ? ? 

18. Karten
Die jedem Tourenabschnitt vorangestellten gezeichneten schwarz-weißen Übersichtskarten sind durchaus geignet für eine grobe Orientierung auch während der Fahrt - woher die eigentlichen Landkarten am besten bezogen werden können, wird ausreichend ausführlich bechrieben. Die Verweise auf erhältliche Landkarten sind exakt und zeugen von der Erprobung in der Praxis. In sofern fällt die Qualität von Übersichtskarten in diesem Buch nicht durch Detailschärfe auf, sondern durch die effektive Einsatzmöglichkeit. O O
19. Ortsbeschreibungen Hauptstädte
Für Riga, Tallinn oder Vilnius ist ein Stadtrundgang vorwiegend in der Altstadt beschrieben, so wie es auch der durchreisende Radler nutzen könnte, der anschließend dann vielleicht doch lieber seine Tour fortsetzt, als gleich mehrere Tage in der großen Stadt zu verbringen. Der Autor hatte ja auf Seite 50 schon gewarnt: Restaurants, Bars und Ausgehmöglichkeiten gibt es allein schon in Riga so viele, dass die Beschreibung zu viel Platz einnehmen würde. So beschreibt er das, was die meisten Touristen tun: bei einem Altstadtrundgang die interessantesten Gebäude zu besichtigen.
Auch bei den Stadtrundgängen sind alle historischen Infos eher mit etwas Vorsicht zu genießen. Krassestes Beispiel: für Kaunas wird gesagt, es sei litauische Hauptstadt gewesen in der Zeit, als Vilnius von der Roten Armee besetzt gewesen sei. Das stimmt so sicherlich nicht. O O ?
20. Ortsbeschreibungen ländliche Regionen
Die Qualität der regionalen Infos fällt sehr unterschiedlich aus. Tourenradlern wird hier vielleicht gar nicht so viel fehlen wie Bildungs- oder Kulturtouristen - darauf spekuliert das Buch sicherlich auch. Beispiel Lettland. Manche Orte haben einfach Pech: aus Limbaži zum Beispiel wird gar nichts berichtet, aus Valmiera ebenso, Alūksne gar als "Städtchen ohne besondere Sehenswürdigkeiten" geschildert, bei Krāslava gar empfohlen, es ohne wichtigen Grund lieber gar nicht zu besuchen (vielleicht hat es dort bei Molls Radtour geregnet?). Die Ortsbeschreibungen des estnischen und litauischen Teils der Route fallen gelegentlich ähnlich launisch aus.

Einerseits hat sich der Autor offensichtlich Mühe gegeben - das läßt sich aus der doch relativ ausführlichen Beschreibung von Orten wie z.B. Liepaja oder Ventspils herauslesen. Andererseits ist es wohl so: was er in den Stunden oder Tagen seines Aufenthalts nicht findet, das steht auch nicht im Buch (Beispiel: er beschreibt in Liepaja den Ortsteil Karosta, nicht aber das Kulturzentrum dort, dass auch in deutschsprachigen Publikationen schon vielfach beschrieben wurde. Oder: für Jurmala ist vieles angegeben, nicht aber das bekannte Museum für das Dichterpärchen Rainis und Aspazija). Aber daran läßt sich erkennen: zwar gibt uns der Autor an manchen Stellen unmißverständlich die Grenzen seiner Recherchedienstleistung zu erkennen, aber einfach bei anderen abgeschrieben ist der Text eben auch nicht. O O ?

21. Fotos
Das kleine, handliche Buch stellt offensichtlich keinen großen Anspruch an die Qualität von Fotos. Da das Buch kein gesondertes Impressum enthält, ist wohl davon auszugehen, dass auch die Fotos vom Autor stammen. Die Gesamtgestaltung gewinnt vor allem durch die immer wieder eingefügten Übersichts-Kärtchen zum nächstfolgenden Streckenabschnitt - und die Fotos wirken als willkommene, wenn auch nur gelegentliche Auflockerung. O
22. Begrifflichkeiten, Fragezeichen, Fehlinfos
Zu den begrifflichen Schwächen ist in den einzelnen Bereichen bereits genügend gesagt. Es wäre zu wünschen, dass der Autor bei all seinen Stärken in der Radreisepraxis in der Landeskunde Estlands, Lettlands und Litauens bei einer möglichen Überarbeitung oder Neuauflage viel dazulernt.
23. Gesamteinschätzung
31 Pluspunkte, 11 Fragezeichen, insgesamt 51 Punkte
24. Zusammenfassung
Dem Autor kommt zu Gute, dass sein Buch momentan (2007) der einzige aktuelle Radreiseführer zu allen drei baltischen Staaten auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ist. Der Autor sagt aber auch selbst, dass Interessierte eigentlich mindestens ein weiteres Buch benötigen, um ausführlichere Kenntnisse in Landeskunde, Geschichte, Kultur Estlands, Lettlands und Litauens zu erlangen. Vergeichbar sind da vielleicht einige andere ausführlichen Radreisebeschreibungen, die lediglich im Internet veröffentlicht sind: man liest es gern, und zieht sich gern das Nützlicheste heraus. Zumindest für diejenigen, die das Buch nicht kaufen müssen, sondern in einer Bibliothek ausleihen können, wäre das auch die empfehlenswerte Umgangsweise.

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